Source: Der Spiegel
Andreas Wassermann
23.04.2022
PRESS TEXT
Ukraine erster Stock, Russland geschlossen
Biennale zwischen Krieg und Corona
Proteste vor dem russischen, Ansturm auf den ukrainischen Pavillon: Die Biennale bildet die Welt im Kleinen ab. Deshalb müsste sie in diesem Jahr hochpolitisch sein. Oder?
Im Arsenale liegt die Ukraine im ersten Stock. Die erste Treppe hinauf, vorbei an märchenhaft verdrahteten Kleinplastiken aus der Türkei. Südafrika samt biografischer Fotokunst aus den Townships links liegengelassen, die großflächige Farbigkeit Luxemburgs durchmessen und schon ist der Biennale-Pavillon der Ukraine erreicht: eng und eingezwängt im Gang.
Und wäre die Welt noch eine ganz normale, würde wohl kaum jemand von der Kunst aus dem ehemaligen Sowjetstaat Kenntnis nehmen: ein einsames Werk, eine Installation aus Wasser und Kupferkelchen, nicht unähnlich einer Champagnerpyramide, wie sie mitunter auch russische Oligarchen feucht-fröhlich aufzutürmen pflegen.
Doch die Zeiten sind nicht normal, es ist Krieg und die Ukraine ein von Putins Russland überfallenes Land. Und deswegen ist der kleine, unscheinbare Pavillon ein begehrter Ort – für Interviews und Statements nicht zur Kunst des Landes, sondern zum Krieg. Und da unterscheidet sich die Diktion der Künstlerinnen und Künstler kaum von der ihres Präsidenten Wolodymyr Selenskyj: kämpferisch, opferbereit und siegesgewiss.
Ungefähr einen Kilometer östlich liegt in den Giardini die venezianische Dependance des Invasors. Schräg unterhalb des deutschen Pavillons, bei dem dieses Jahr die Konzeptkünstlerin Maria Eichhorn schichtweise bis aufs bloße Mauerwerk die unheilvolle (faschistische) Geschichte freilegt, steht der russische Länderpavillon, noch zur Zarenzeit in einer Art Fantasy-Historismus erbaut.
Er wird nicht eröffnet und bleibt geschlossen, dafür von Protesten begleitet. Wenige Tage nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine hatten Künstler und Kuratoren entschieden, auf eine Teilnahme zu verzichten. Die Organisatoren der Biennale nannten das eine »noble Geste« und »mutige Handlung«.
An diesem Samstag öffnet die 59. Kunstbiennale von Venedig, Monate früher als zuvor. Schon vor der Freigabe fürs kunstaffine Weltvolk, beim sogenannten Pre-Opening in der Woche nach Ostern, bildeten sich diesmal lange Schlangen am Eingang der Biennale-Ausstellungsstätten Arsenale und Giardini: Endlich wieder internationaler Kunstzirkus, fast wie vor Sars-CoV-2. Denn das Virus zwang die Kunstbiennale sogar aus ihrem üblichen Rhythmus.
Turnusgemäß hätte sie voriges Jahr stattgefunden, im ungeraden Jahr 2021. Doch das ließ Corona nicht zu. Um so feiert sich nun die internationale Kunst-Community, trotz anhaltend hoher Omikron-Ansteckungen und trotz des Zerstörungsfeldzugs in der Ukraine.
Verkitschte Lichtplastiken
Es müsste eine hochpolitische Biennale sein. In mancher Weise ist sie das auch, andererseits bleibt sie Behauptung. Die Volksrepublik China beispielsweise lässt eine Künstlergruppe den Klimawandel und die Auswirkungen der Pandemie in konzeptuellen, ästhetischen Lichtplastiken verkitschen.
Und wie schon bei den Biennalen vorher zeigen die oft eklektischen Länderpavillons Licht und Schatten des Kunstbetriebs. Auch diesmal präsentieren vor allem mittelasiatische Ex-Sowjetrepubliken wie Usbekistan oder ölreiche Golfstaaten schön anzusehende Affirmation, mitunter so protzig präsentiert, als gelte es, das Heim eines Oligarchen oder Ölprinzen zu illuminieren. Wohltuend hingegen sind da so reduzierte und konzentrierte Arbeiten wie die des katalanischen Künstlers Ignasi Abali, der den spanischen Pavillon mit neu eingezogenen Trockenbauwänden dekonstruiert.
Doch diese 59. Biennale wird vor allem durch seine von Cecilia Alemani kuratierte Hauptausstellung »Die Milch der Träume« im Gedächtnis bleiben. Sie ist zweigeteilt: Ein Teil befindet sich im Arsenale, der andere in den Giardini. Der Titel stammt von einem Kinderbuch der surrealistischen Künstlerin Leonora Carrington, in dem das Leben ständig neu erfunden wird, allein durch die Macht der Fantasie.
Die erste italienische Chefkuratorin der Biennale, die inzwischen in den USA lebt, entwickelt daraus eine Werkschau von Gegenwarts- und vergangener Kunst, die die Veränderung des Menschen durch kulturelle, soziale und technische Entwicklungen beschreibt, mal zu seinem Besseren, mal zu seinem Schlechteren – in seiner Verbindung zur Natur, zu anderen Lebewesen und sich selbst.