PRESS: Interview Maria Aljochina: Putins Russland ist schlimmer als der Gulag

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Source: Frankfurter Allgemeine Zeitung

Von Alexandra Wach

15.11.2024 www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/maria-aljochina-von-pussy-riot-putins-russland-ist-schlimmer-als-der-gulag-110108968

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Interview Maria Aljochina:

Putins Russland ist schlimmer als der Gulag

Von Alexandra Wach
Lesezeit: 4 Min.
Unerschrocken: Die Sängerin Maria Aljochina von Pussy Riot bei der Eröffnung der Ausstellung „Velvet Terrorism: Pussy Riot's Russi“ im Münchner Haus der Kunst. Es ist die bislang größte Präsentation der Arbeiten des künstlerischen Kollektivs.

Maria Aljochina ist die Sängerin der russischen Punkband Pussy Riot. Seit zwei Jahren lebt sie im Exil. Im Interview spricht sie über die Folgen von Trumps Wiederwahl und Putins Imperium der Angst.

Frau Aljochina, Sie warnen davor, dass Russlands Weg zum Totalitarismus Teil eines weltweiten antidemokratischen Trends ist. Was befürchten Sie nach Donald Trumps Wiederwahl?

Für Putin ist Trump als amerikanischer Präsident ziemlich bequem. Er wird die Ukraine zu „Friedensverhandlungen“ zwingen. Das gibt Putin Zeit, einen Angriff auf ein anderes Land vorzubereiten. Der kann jedes mit einer Grenze zu Russland treffen, Finnland, Polen oder die baltischen Staaten. Trumps Wiederwahl steht aber auch im Kontext der wachsenden rechtsextremen Bewegungen, Parteien und Anführer in vielen europäischen Ländern, sei es in Italien, Österreich, Deutschland oder Polen. Es ist eine große Herausforderung für uns alle.

Wie unterscheidet sich die Situation von Trumps Wahlsieg 2016?

Europa muss sich darauf besinnen, dass es auch ohne die USA eine Macht darstellt. Die Europäer sollten verstehen, dass sie sich schützen müssen. Putins verrückte Idee ist es, mit Waffen und Streitkräften das Sowjetimperium wieder aufzubauen. Niemand kann vor einer Invasion sicher sein. Sogar Berlin ist in Putins Augen historisch gesehen Teil der russischen Welt. Ich habe oft diese dumme Frage gehört: Warum verzichtet Selenskyj nicht auf einen besetzten Teil der Ukraine, um Frieden zu haben? Aber wie kann man Folterungen, Morde, Vergewaltigungen, Vertreibungen während der Besatzung vergessen? Wir alle müssen uns die Frage stellen: Wollen wir, dass die Welt so aussieht, wie Putin es will?

Wie beurteilen Sie die Politik der EU gegenüber russischen Staatsbürgern?

Russen, die sich gegen Putin aussprechen, darunter auch Künstler, verlieren alles, wenn sie ihr Land verlassen. Es emigrieren ganz unterschiedliche Leute, vom Aktivisten bis zum IT-Spezialisten, viele leben in Berlin. Es ist unsere kollektive Aufgabe, dem Westen klarzumachen, dass man russischen Oligarchen, die ihr Geld und ihre Kinder in den Westen gebracht haben, nicht vertrauen darf. Ich denke, alle Vermögenswerte russischer Oligarchen sollten eingefroren werden. Dieses Geld wurde aus Russland gestohlen. Es wird jetzt gebraucht, damit Menschenrechtsverteidiger inhaftierte Ukrainer in Russland schützen, die mit russischen Partisanen kooperieren. Putin hält sich nicht an Regeln. Heute verhandelt er über Frieden, morgen kann er Sie bombardieren. Es ist heuchlerisch und zynisch. Dabei steckt viel Angst in Putin. Er überträgt diese Angst auf ganz Russland und nun auch auf die besetzten Gebiete. Die Menschen dort brauchen Hilfe.

Wie ist heute die Situation russischer Künstler, die Widerstand leisten?

Viele sitzen im Gefängnis, werden vergiftet, getötet. Ich bin Mitglied im Beirat der Organisation „Artists at Risk“ (AR), die Hunderte solcher Künstler gerettet hat. Es wird aber immer schwieriger, Russland zu verlassen und ein Visum für ein westliches Land zu bekommen. Wir zeigen im Münchner Haus der Kunst die Ausstellung „Velvet Terrorism: Pussy Riot’s Russia“ über das, was in den vergangenen zehn Jahren passiert ist: wie Russland sich von einem autoritären zu einem faschistischen Staat gewandelt hat. Es ist eine persönliche Sichtweise. Ich hoffe, sie kann vermitteln, was wir gespürt haben. Seit Beginn der Großinvasion in der Ukraine herrscht starke Zensur. Wenn man den Krieg als Krieg bezeichnet, muss man damit rechnen, jederzeit verhaftet zu werden und für Jahre ins Gefängnis zu kommen. Es ist eine andere Realität und ein großes Trauma. Ich wurde in der Perestroika-Zeit geboren und wuchs in den Neunzigerjahren auf. Die Russen wollen keine Sklaven sein, sondern in Freiheit leben. Aber jetzt kann man nicht mehr für diese Freiheit demonstrieren. Alle sozialen Medien stehen, wie in China, unter Beobachtung. Es gibt geheime Gefängnisse für ukrainische Partisanen, Soldaten, aber auch Zivilisten, vor allem auf der Krim. Es ist schlimmer als der Gulag.

Das klingt noch schlimmer als Ihre eigenen Erfahrungen im Arbeitslager?

Die Inhaftierten der Geheimgefängnisse gibt es offiziell nicht. Es sind aber Tausende. In Moskau trinkt man unterdessen Wein, feiert Partys. Über die faschistische Besatzung darf man nicht sprechen. Unsere Aufgabe als Kollektiv ist es, darauf aufmerksam zu machen, dass dieses Regime Menschen umbringt, manchmal während des Gefängnistransports. Solche Transporte von einer Haftanstalt zur anderen können vier bis sechs Wochen dauern, der Gefangene weiß nicht, wohin er gebracht wird. Die 27 Jahre alte ukrainische Journalistin Vika Roschtschina starb im Oktober nach 15 Monaten in russischer Haft beim Transport aus einem Gefängnis in der südrussischen Stadt Taganrog nach Moskau. Sie wollte aus den besetzten Gebieten berichten.

Sie haben die Schikanen des Haftsystems selbst erlebt . . .

Ja, die Spezialwaggons ohne Fenster und mit winzigen Zellen, in denen man verlegt wird, stammen noch aus der Stalinzeit. Es ist ganz leicht, jemanden umzubringen, von dem niemand weiß, wo er sich befindet. Daran hat sich nichts geändert. Das System wird sich nicht ändern, Putin ist stolz auf das Erbe der Sowjetunion und auf Stalin – den Tyrannen, der unsere Kultur getötet hat und alle meine Lieblingskünstler.