PRESS: A tour of the pavilions at Venice Biennale: So brisant wie lange nicht mehr by Rhein-Neckar-Zeitung

Source: Rhein-Neckar-Zeitung

By: Eleonora Frolov

4.-5.5.2024: https://www.rnz.de/kultur/magazin_artikel,-Kunstbiennale-Venedig-Brisante-Ausstellung-ist-eine-Hommage-an-die-Fremden-unter-uns-_arid,1329164.html

 

 

PRESS TEXT:

 

Die Kunstbiennale von Venedig ist eine Hommage an „die anderen“ Künstlerinnen und Künstler: an die Fremden, die Migranten, Geflüchteten, Exilanten, Außenseiter, Autodidakten, Queeren und Indigenen – eben an alle, die sich nicht den Normen zugehörig fühlen oder sich sogar gegen sie stellen. Wer hier nach dem westlichen Kanon der zeitgenössischen Kunst sucht, wird enttäuscht – und zu Recht: Der brasilianische Kurator Adria- no Pedrosa wagt mit seiner Arbeit auch eine Neuschreibung der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, indem er versucht, den globalen Süden und den Westen auf dieser Weltausstellung komplementär zu verbinden. Didaktisch gesehen ist das eine Nachhol-Lektion für den Westen, global gesehen eine Einladung zur ganzheitlichen Neu-Entdeckung der Kunst von der Moderne bis zur Gegenwart. Ja, ein Appell an das Weltbürgertum.

 

Auf der 60. Jubiläumsschau „Fremde überall“ schreitet die Globalisierung der Ausstellungspraxis zügig voran. Hier liegt der Fokus auf Künstlerinnen und Künstlern, die sich zwischen dem globalen Sü- den und dem globalen Norden bewegen – in Lateinamerika, Afrika, Südostasien und dem Nahen Osten. Ausgerechnet vor der historischen Kulisse Venedigs, des- sen Bevölkerung ursprünglich aus römischen Flüchtlingen bestand, gelingt diese Würdigung der Zusammengehörigkeit der Menschen in all ihrer Vielfalt, über Nationen, Länder, Territorien und Grenzen hinweg.

 

Pedrosa konkretisiert die komplexen Themen Migration und Dekolonialisie- rung vor allem über Porträt und Körperabbildungen. Es wird viel mit Textilien gearbeitet, formal herrscht die Abstraktion vor. Diese offenbart im „Globalen Süden“ einen ganz eigenen Charakter, sie ist deutlich verspielter, die Farben sind leuchtender und lebendiger, die Formen organischer und kurviger, die Kompositionen wilder und progressiver. Die Kunst befreit sich von der europäi- schen abstrakt-geometrischen Tradition des Konstruktivismus – eine wichtige und erfreuliche Entdeckung im Hauptpavillon in den Giardini. Der Kurator ver- traut selbstbewusst auf die Eigenwirkung seiner Ausstellung, und der reiche Zustrom interessierter Besucher gibt ihm recht. In den 88 Länderpavillons ist aber auch allerhand zu sehen!

 

Die wichtigsten Preise der Biennale ehren indigene Künstler: Der Goldene Löwe ging an das Mataaho Kol- lektiv, bestehend aus vier Maori-Künstlerinnen: Bridget Reweti, Erena Arapere-Baker, Sarah Hudson und Terri Te Tau. Der Goldene Löwe für den Nationalen Pavillon ging an den Australier Archie Moore, der ganze vier Wochen damit ver- bracht hat, Namen und Jahreszahlen auf Wände und Decke des Pavillons zu schreiben, womit er einen Stammbaum seiner Verwandtschaft und Vorfahren aus den First Nations der Kamilaroi und Bigambul visualisiert. Eine Würdigung des zähen Widerstands der australischen Ureinwohner gegen die Kolonialisierung, die ihre Kultur zu zerstören droht.

 

Omnipräsent sind auf der Biennale die Muster der Südafrikanerin Esther Mahlangu, die auch unter Promis von Oprah Winfrey bis Mick Jagger viele Fans hat. Ihre abstrakten, symmetrischen Farb- kompositionen, die auf den Formenchatz der traditionellen Ndebele-Ornamentik zurückgreifen, flirren förmlich vor den Augen des Publikums.

 

EXTRA

 

■ Artists at Risk feiert als Organisation ihr zehnjähriges Bestehen. Im gleichnamigen Pavillon kämpft ein kleines Team mit der Unterstützung der UNESCO für große Ziele. Artists at Risk hilft Kulturschaffenden, die in ihren Herkunftsländern nicht arbeiten können, deren Leben oftmals bedroht ist, sichere Aufnahmeländer zu finden. Dafür werden mehr Visa benötigt. Aktuell betrifft es vor allem Länder wie Palästina, Russland, Iran, Syrien, Afghanistan, Saudi-Arabien, Sudan, Irak, Simbabwe und die Türkei. Gerade in den letzten Jahrzehnten haben die Verfolgungen und Repressionen überall stark zugenommen. Man könnte sagen, man erkennt den Grad des Despotismus daran, wie der Staat mit seinen Kreativen umgeht. Artists at Risk wird von der UNESCO, dem ZKM Karlsruhe und vielen anderen Institutionen unterstützt. Auch Bürger können Unterstützung leisten. Wer sich informieren und zum Schutz der künstlerischen Freiheit in der Welt beitragen möchte, findet weitere Informationen unter www.artistsatrisk.org. Denn die Freiheit für die Kunst ist so notwendig wie die Luft zum Atmen.

 

Auf der Hauptausstellung im Arsenale rekonfiguriert Ana Segovia Modelle der Männlichkeit aus Western und Ranch-Komödien. In einer in grellen, raumfüllenden Installation zerlegt die Mexikanerin das klischeegesättigte Pathos von Männlichkeitsritualen, dabei durchaus humorvoll und bisweilen sogar mit überraschender Zärtlichkeit.

 

„Rückwärtsfallen“, eine Videoinstallation und Performance von Isaac Chong Wai, thematisiert wiederum rassistische Angriffe im öffentlichen Raum. Seine Intention ist, die Bewegungen des Fallens als Reaktion auf institutionelle Gewalt und Übergriffe gegen die asiatische Dia- spora umzukehren. Es gelingt ihm eindrücklich. Bárbara Sánchez-Kane ent- wirft, ebenfalls im Arsenale, eine neue Unisex-Armeeuniform, indem sie das „Macho“-Ideal des Militärs von der normativen Hypermaskulinität in eine feminine verführerische Stärke umdeutet.

 

Ruth Patir, Künstlerin des Israelischen Pavillons, hält ihre Ausstellung mit Hinweis auf die politische Lage geschlossen. Begleitet von den richtigen Worten wird aber auch das zur politischen Aktion. Russland hingegen überlässt seinen Pavillon Bolivien. Auf die Frage nach seiner persönlichen Haltung dazu verwies der brasilianische Kurator auf die Verantwortung der Institution. Aber wer trifft denn hier die Entscheidungen? Die Institutionen oder doch die Menschen?

 

Dafür gab Polen ein klares und starkes Statement ab und lud das ukrainische Kollektiv Open Group ein, das in einer berührenden Arbeit die Verheerungen des Krieges zeigt. „Repeat after me“ ist eine Klang- und Videoinstallation aus von Menschen erzeugten Lauten, die die von Bomben, Drohnen, Raketen und Ge- schossen verursachten Lärm nachformen. Das hallt lange nach und gibt eine Ahnung der Kriegstraumata, unter denen Betroffene leiden. In der Pinchuk Foun- dation wiederum sind Werke ukraini- scher und internationaler Künstler zu se- hen, die dem schrecklichen Krieg zum Trotz das Wagnis des Träumens be- schwören: „Dare to Dream“.

 

Der Amerikanische Pavillon zeigt zum ersten Mal einen indigenen Künstler. Jeffrey Gibson hat den ganzen Pavillon in einem lustvollen Formen- und Farbenexzess zu einer Auseinandersetzung mit den Wurzeln seiner indigenen Geschichte gestaltet. Das Ergebnis sieht aus wie eine Mischung aus Popkultur und Folklore. Dabei findet er einen so heite- ren wie kritischen Zugang zu Motiven, Tieren und den Geistern der Ahnen. Seine Vogelfrauen haben das Potenzial, zum nächsten Popkultur-Trend zu werden.

 

Einen eigenen Text hätte der Deutsche Pavillon verdient – so berührend und intensiv ist die Auseinandersetzung der Kunstschaffenden mit Vergangenheit und Zukunft der Menschheit, betitelt mit „Schwellen“. Die lange Schlange vor dem Pavillon gehört vermutlich zum Gesamtkunstwerk dazu. Das Interesse ist groß! Ersan Mondtag nimmt Interessierte mit auf eine Zeitreise in die Geschichte seines Großvaters, der 1968 als Gastarbeiter aus Anatolien nach Deutschland kam und die „Drecksarbeit“ machte, um Geld zu verdienen, und das noch als „Erfüllung“ empfand. Trotzdem starb er noch vor dem Rentenantritt an Krebs, weil er in einer Fabrik Asbest verarbeitet hatte. So spricht der Künstler „ungelöste Knoten in der neuen deutschen Geschichte“ an.

 

Yael Bartana hat sich angesichts des Zustandes unserer Welt ein besonderes Überlebensszenario ausgedacht: ein Raumschiff, mit dem wir aufbrechen, um fremde Planeten zu kolonisieren. Aber es dürfen nicht alle mit, nur die Auserwählten! Macht ja nichts: Die Zurückgebliebenen dürfen sich auf der Insel La Certosa an einer großartigen Klanginstallation erfreuen, ganz demokratisch.

 

Der Schweizer Pavillon zeigt mit „Super Superior Civilizations“ Hologramm- und Videoinstallationen des schweizerisch-brasilianischen Künstlers Guerreiro do Divino Amor. Das Video „Das Wunder der Helvetia“ setzt das Land als große Allegorie in Szene, als ein wundersames, „superfiktionelles Paradies auf Erden, in dem sich Natur und Technik, Kapitalismus und Demokratie, Bodenständigkeit und Kultiviertheit in einem perfekten und surrealen Gleichgewicht befinden“, schreibt die Prohelvetia, die Kommissarin des Pavillons.

 

Erick Meyenberg versetzt mit seiner Installation im Mexikanischen Pavillon in einen Zustand, der Migranten jedweder Herkunft wohlbekannt ist: das Gefühl der Heimkehr in den Schoß der Familie. Aber die Emotionen sind trügerisch. In einer sich immer schneller wandelnden Welt verdrängt der Eindruck einer unheimlichen Fremdheit alles andere.

 

Usbekistan hat Aziza Kadyri und das Qizlar Kollektiv eingeladen. Die Frauen verwandeln den Pavillon in eine immersive Theaterbühne. Da wird der Besucher zum Akteur hinter den Kulissen, die Kunst zur Requisite, während textile Wandteppiche die Theatervorhänge ersetzen. Die Darstellungen darauf wurden durch eine trainierte Künstliche Intelligenz produziert, nach dem Vorbild traditioneller Motive und Muster. Schon der Titel der Ausstellung ist eine Aufforderung zum Mitmachen – also, bitte nicht den Einsatz verpassen: „Don’t miss the cue!“

 

Weiter geht’s mit dem Vaporetto auf die Insel San Giorgio Maggiore – dorthin, wo Palladio einst ein Meisterwerk der Renaissance erschaffen hat. Hier platziert die Belgierin Berlinde de Bruyckere „Die Stadt der Zuflucht III“. Sie konfrontiert mit dem urchristlichen Motiv der Passion und der Vergänglichkeit; Themen, die alle Geschöpfe gleichermaßen bewegen. In den heiligen Hallen der Abbazia di San Giorgio Maggiore empfangen uns schauderhaft mystische Hybridwesen. Verhüllte Erzengel führen uns hinter den Altar: Hier, auf dem Badalone des großen Chors thront ein Manuskript. Enthält es eine Botschaft für den Betrachter? Eine Offenbarung? Aber, nein, es lässt sich nicht öffnen. Der Sinn der Schrift, nämlich uns Wissen zu vermitteln, wird hier schmerzlich vorenthalten: Das Dasein bleibt kryptisch.

 

Und wenn wir dann hilfesuchend nach oben schauen, verfängt sich unser Blick in jenen geheimnisvollen Wesen. Sie schweben zwischen dem Granitboden und dem Gewölbe der Abbazia wie in der Dualität zwischen Menschlichem und Göttlichem und werfen uns gerade durch ihre Rätselhaftigkeit zurück ins Hier und Jetzt. Das ausgerechnet an einem sakralen Ort, der im Ursprung schon immer ein Schutzraum der Zuflucht und Gastfreundschaft war. Dieses Thema des Geschütztseins ist zentral in der Arbeit Berlinde de Bruyckeres. Angesichts der aktuellen Entwicklungen in der Welt erscheint dieses Anliegen so aktuell und brisant wie lange nicht mehr.