PRESS: Es folgt: Die Kritik der Kritik der Kritik by Süddeutsche Zeitung

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Source: Süddeutsche Zeitung
Jörg Häntzschel
27.11.2022

PRESS TEXT

Konferenz «Die Zukunft der Kritik». Es folgt: Die Kritik der Kritik der Kritik

Welche Folgen hat eine sich wandelnde Öffentlichkeit für die Zukunft der Kunstkritik? Eindrücke von einer Konferenz in Berlin.

Schön, dass es in der Zeit der großen Krisen immerhin eine winzige gute Krise gibt: die Krise der Kunstkritik. Das war in etwa der Ausgangspunkt der hochambitionierten fünftägigen Konferenz «Die Zukunft der Kritik», die die Kunsthistorikerin Angela Lammert und der Autor Kolja Reichert soeben an der Bundeskunsthalle in Bonn und der Berliner Akademie der Künste organisiert haben.

In dieser Zukunft ist demzufolge jeder ein Kritiker, nicht mehr nur die Gatekeeper und Kritikerpäpste der «Alt-Medien». Die neue Kritik ist demokratisch, mehrstimmig, divers. Dennoch fiel die Feier der «Postkritik» verhalten aus. Nicht nur, weil die Päpste eigentlich schon tot waren, bevor ihre Nachfolger sie hätten ermorden können. Auch weil so unklar ist, wie und wo ihre Arbeit ersetzt werden kann. «Ein Tweet kann genauso viel über ein Buch sagen wie eine klassische Rezension», sagte die Literaturwissenschaftlerin Berit Glanz. Es ist leicht, das zu proklamieren, aber man hätte es gerne einmal vorgeführt bekommen. Und so berechtigt die alte Klage ist über die schlechten Honorare der legacy media, es lässt sich dort in aller Regel immer noch mehr Geld verdienen als mit einem Podcast oder auf Youtube.

Unzweifelhaft ist immerhin, dass sich das Gefüge aus Kunst, Kritik und Publikum dauerhaft verändert hat. Die frühere Öffentlichkeit hat sich in «Stilgemeinschaften» ausdifferenziert, die alten Sender-Empfänger-Verhältnisse sind Kommunikationsnetzen gewichen, in denen jeder mit jedem sprechen kann, in variablen Rollen. Doch es war keineswegs nur der Aufstieg des Web 2.0, der die Neudefinition der Kritik provozierte, sondern es ist auch der «durchschlagende Erfolg» der Kunst selbst, so der Kunstwissenschaftler Robert Kudielka. Aufgabe des Kritikers sei es nicht, «zu fragen: Was ist das?, sondern: Ist da was?» Doch wenn es Preise und Prominenz des Künstlers sind, die den Wert von Kunst definieren, dann werde der Kritiker zur Beantwortung dieser Frage immer weniger gebraucht.

Noch etwas anderes hat sich verändert, vor allem in Kunst und Theater. Jahrzehntelang wurde das Publikum von den Künstlern bezichtigt, zu saturiert, zu bürgerlich und passiv zu sein, eine Diagnose, die dieses insgeheim teilte. Man ging ins Theater, man sah zeitgenössische Kunst, um lustvoll aufgeschreckt, provoziert und überfordert zu werden.

Heute wird das Publikum nicht mehr provoziert, sondern zum Mitmachen eingeladen

Heute hingegen wird das Publikum statt zu einem herausfordernden ästhetischen Ereignis in eine «Wertegemeinschaft» eingeladen, wie es Hanno Rauterberg, Kunstkritiker der Zeit, formulierte. Der Zuschauer wird zum Kollaborateur, der im Geist von Inklusion und Empathie als Mit-Künstler eingreifen soll. Die Frage nach der Kunst rückt dabei zunehmend in den Hintergrund: «Make friends, not art», hieß es auf der diesjährigen Documenta.

Dass die Harmonie auf der Documenta nur drei Tage lang hielt – so lange bis das Banner von Taring Padi sie explodieren ließ -, war für Rauterberg auch einem Rückfall in das frühere, konfrontative Verhältnis von Kunst und Publikum geschuldet. Wären Taring Padi dem Documenta-Ideal des gegenseitigen Verstehens und Akzeptierens treu geblieben, hätten sie ihr Banner selbstkritisch als historisches Zeugnis ihrer eigenen Vorurteile präsentiert, wäre der Skandal möglicherweise ausgeblieben.

Rauterberg begrüßt den neuen Geist in der Kunst. Er habe etliche lange vernachlässigte Fragen auf den Tisch gebracht: Von der nach der Dominanz weißer Männer bis zu der nach Raubkunst in den Museen. Dass es nicht die Kritik, sondern die Kunst war, die diesen Wandel eingeleitet hat, das sieht er «mit einiger Beschämung». Problematisch seien an der neuen Entwicklung die Tendenzen der Selbstbestätigung und der Verkapselung von Communities. Um die Kritik aber brauche man sich keine Sorgen zu machen. Ihre Aufgabe sei es, den Störenfried zu spielen, in die Blasen zu stechen, so wie es früher die Kunst gemacht habe.

Der bewegendste Moment des Berliner Teils der Konferenz, die in Bonn begonnen hatte, war das Panel mit Danson Kahyana aus Uganda, Sara Nabil aus Afghanistan und Bariş Seyitvan aus der Türkei, die von Folter, Gewalt und Berufsverbot berichteten. Dank der Initiative «Artists at Risk» sind sie nun sicher im Westen. Doch viele ihrer Kollegen sind nach wie vor in Lebensgefahr. Die womöglich lebensrettende Hilfe mit humanitären Visa durch Deutschland und die EU kommt nicht voran. Viel mehr als mitfühlenden Applaus und ein bedauerndes Achselzucken bekamen die Gäste aber nicht.

Immerhin kam die Künstlerin und Forscherin Hito Steyerl noch einmal darauf zu sprechen. Die Organisatoren hatten ihr geschickt das Finale am Samstagabend überlassen, und sie nutzte diesen Slot für einen apokalyptischen Appell, mit dem sie die Konferenz vom Kopf auf die Füße stellte. Hito Steyerl also wie folgt: Ihr redet von der Postkritik, aber Plattformen wie Twitter, auf denen sie stattfindet, brechen gerade krachend in sich zusammen. Ihr redet von der Kunst, aber mit den steigenden Zinsen wird auch Liquidität verschwinden, die die Kunst in den letzten 20 Jahren finanziert hat. Ihr redet vom Netz, aber die Energiekrise wird uns noch Blackouts bringen wie heute in Kiew und Cherson. Steyerls Fazit, «wir müssen uns auf eine Zukunft ohne Energie, ohne Internet, ohne Infrastruktur einstellen!» – und womöglich ohne Kunst, wie in Afghanistan.